Textatelier
BLOG vom: 24.09.2014

„arte“: Der lang verdrängte Sondermüll meldet sich zurück

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
Ein Musterbeispiel von wegweisender Fachkompetenz: die „arte“-Fernsehsendung am Abend des 19.09.2014 von Alexander Schlichter und Davina Weitowitz zum Thema „Toxisch! Verkannte Gefahr Sondermüll“. Die bisherigen gigantischen Fehlleistungen im Umgang mit Rohstoffen und Chemikalien und deren Folgen wurden an besonders markanten Beispielen dargestellt. Dazu gehört auch der im Gange befindliche Rückbau der Sondermülldeponie Kölliken SMDK im aargauischen Suhrental. Diese Deponie ist mir von meiner seinerzeitigen publizistischen Arbeit als Wissenschaftsredaktor her bestens bekannt, und ich durfte eigene Fotos zur Sendung beisteuern, die unter der Ägide des Hessischen Rundfunks (HR) sorgfältig produziert wurde.
 
In einer allgemeinverständlichen Art zeigte die televisionäre Dokumentation, dass mit der Einlagerung von Sondermüll (inkl. radioaktiven Abfällen) in den Gängen bzw. Hohlräumen ausgebeuteter Salzlagerstätten eine Zeitbombe geschaffen wurde, von der man nicht wissen kann, wann sie zur (wahrscheinlich schleichenden) Detonation kommt. Viele künstliche Chemikalien wie chlororganische Verbindungen werden von Bakterien als Selbstschutzmassnahme fast nicht angegriffen, sind also resistent, haltbar.
 
Einlagerungen in Untergrundkavernen müssten gestoppt werden, forderte die Sendung. Eine sinnvollere Lösung wäre, den toxischen (giftigen) Abfall als Rohstoffquelle zu begreifen und zu verwerten, wie das bei der Müllverbrennungsanlage Zuchwil SO in vorbildlicher Weise geschieht. Laut Kebag-Direktor Markus Juchli werden aus den dort anfallenden Filterstäuben Schwermetalle wie Zink zurückgewonnen (1 Tonne Zink hat einen Marktwert von rund 1700 CHF/1400 Euro).
 
In Wädenswil ZH zeigt die Gessner AG mit ihren Climatex-Produkten (Sitzbezugsstoffen), dass eine abfallfreie Produktion auf dem Kunststoffsektor möglich ist (so Gessner Geschäftsführer Fredy Baumeler ) ... eine Welt ohne Sondermüll. Man hat es hier mit dem Cradle to Cradle-Konzept (Von der Wiege zur Wiege) zu tun, also mit der zyklischen Ressourcennutzung, in der Produktionsweisen am Erhalt geschöpfter Werte ausgerichtet sind. Das hätte seit je selbstverständlich sein müssen.
 
Die Rückgewinnung von Rohstoffen aus den giftigen Abgängen der Zivilisationsgesellschaft ist nur die zweitbeste Lösung. Der Idealfall ist die Abfallvermeidung bei der Produktion, an der Quelle ... damit Trinkwasserquellen als Lebensgrundlage niemals damit in Berührung kommen. Im Interesse der industriellen Ertragsmaximierungen wurde in den letzten Jahrzehnten weitestgehend darauf verzichtet, was sich im Rückblick nicht gelohnt hat. Die Rechnungen werden jetzt präsentiert; der SMDK-Rückbau kostet zum Beispiel gegen 1 Milliarde CHF.
 
Die „arte“-Sendung nahm sich des Themas von Grund auf an, zeigte am Beispiel Paris, dass pro Person und Tag etwa 1 kg Abfall anfallen, wovon rund 90 % in die Müllverbrennung im über 1000 Grad C heissen Feuer gelangen. In den Filtern bleiben Stäube aus Blei, Kadmium, Zink und Kupfer etc. zurück, die bei einer allfälligen Freisetzung über die Luft, das Wasser und die Nahrung in die lebendigen Organismen wie den Menschen gelangen können. Die bedeutendsten Zivilisationsabfälle sind Chemikalien, Medikamente, Laugen, Lösemittel, Farbreste, Kunststoffe, alte Batterien, Schlacken aus Müllverbrennungsanlagen und der radioaktive Abfall, der auch aus der Medizin stammt, usf. Ungelöst ist der Abfall, der sich aus den kurzlebigen Solarpanels und den Kunststoffen ergibt, wie sie zur Isolation moderner Häuser exzessiv eingesetzt werden. Man hätte gescheiter eine Abfall- statt Energiewende veranlasst.
 
Oft erfolgt die Ablagerung der (durchtränkten) Gifte oberirdisch, was von „arte“ am Beispiel von Pohritzsch in Sachsen D dargelegt wurde ... in unmittelbarer Nähe zu Obstplantagen. Bleikontaminierte Stäube verbreiten sich aus der Abfallbehandlungsanlage der dortigen S.D.R. Biotec Verfahrenstechnik GmbH. Die massivsten Grenzwertüberschreitungen stammen laut der Deutschen Umwelthilfe aus Bodenproben, die am Strassenrand in Wohngebieten genommen wurden; die Organisation weist seit dem Februar 2008 ständig auf die in Fotos dokumentierten, offensichtlich schwermetallhaltigen Staubemissionen der Abfallbehandlungsanlage hin; Behörden wiegelten ab. Dietmar Mieth dokumentierte die Verschmutzungen fotografisch: Staubwolken im Betrieb und verschmutzte Strassen. Und er sagte bei „arte“, bei Kadmium dürfte es keine Toleranzgrenze geben, weil es bereits in kleinsten Konzentrationen Tumore erzeugen kann.
 
Ein weiteres abschreckendes Deponiebeispiel ist die Deponie Ihlenberg, nach der früheren Bezeichnung VEB Deponie Schönberg, eine Abfallentsorgungsanlage für gefährliche und nicht gefährliche Abfälle in Mecklenburg-Vorpommern, die zu Selmsdorf gehört. Dort wurde eine „deponiebürtige“ (auf die Deponie zurückzuführende) Grundwasserverschmutzung festgestellt, weil es keine Basisabdichtung gab (wobei eine unten abgedichtete Deponie natürlich wegen des Niederschlagwassers gelegentlich oben überläuft).
 
Die Deponie-Exkursion des Wissenschaftsjournalisten Schlichter führte dann ins 80 km entfernte Hamburg. Die Deponie Georgswerder ist eine stillgelegte Mülldeponie im Stadtteil Wilhelmsburg, wo 7 Mio. Kubikmeter Müll gelagert sind. Ihre Geschichte begann nach dem 2. Weltkrieg, als ein Platz für den Trümmerschutt aus der von britischen Bombern zerstörten Stadt Hamburg gefunden werden musste. 1967 kamen höchstgiftige Abfälle wie Dioxine hinzu, die 1983 im Sickerwasser zum Vorschein kamen. Diese fürchterlichen, sogenannten Seveso-Gifte gelangten auch ins Grundwasser. 1979 wurde die Deponie geschlossen, und die weiterhin anfallenden Abfälle wanderten in die damalige DDR nach Schönberg aus, die sie zusammen mit Devisen annahm. Der Hamburger Deponieberg seinerseits wurde oben mit Plastikfolien abgedichtet und landschaftsgärtnerisch gestaltet; ein Teil der Deponiegase werden als Energiequelle benützt. Der Deponiesaft wird aufgefangen und entgiftet, was etwa 600 000 bis 700 000 Euro pro Jahr kostet und mindestens für weitere 100 Jahre fortgesetzt werden muss. Eine unendliche Geschichte.
 
Der Aspekt des Rückbaus einer Sondermülldeponie wurde anhand von Kölliken ausführlich gezeigt. Hier traten bereits Giftstoffe ins Grundwasser aus, so dass die Anlage im obersten Teil des grössten Grundwasserstroms der Schweiz gründlich saniert werden musste, was nur den Rückbau der grössten Umweltsünde der Schweiz bedeuten konnte. Dieser ist bisher weitgehend problemlos verlaufen.
 
Die weitsichtige Kämpferin für einen besseren Lebensraum, Hertha Schütz-Vogel, kam in der TV-Sendung zu den verdienten Ehren; sie hatte von Anfang an und immer wieder auf das sich abzeichnende Kölliker Debakel aufmerksam gemacht, was ihr eher Feinde als Freunde eintrug. Dass sie meine jahrzehntelange Unterstützung übers Aargauer Tagblatt erwähnte, freute mich selbstverständlich. Die fundierten und kommentierten Fakten trugen wesentlich zur Deponieschliessung bei.
 
Frau Schütz-Vogel, die die Grundlagenarbeit machte, ist ihrem Gewissen verpflichtet und wies in der Fernsehsendung mit Recht darauf hin, dass man trotz der enormen Anstrengungen ein ungutes Gefühl habe, denn irgendwohin wanderten die schwer aus der Welt zu schaffenden Gifte schliesslich.
 
Wohin also mit dem verfluchten Giftzeug? Viele abschreckende Erfahrungen beweisen, dass der Umgang mit dem hochtoxischen Abfall nach wie vor leichtfertig erfolgt. Aus der Deponie Stocamine im Elsass muss Sondermüll mit grossem Aufwand aus 500 Metern Tiefe geborgen werden, weil er das Grundwasser der ganzen Region bedrohen könnte. Die Einlagerungsdauer erstreckte sich lediglich über 3 Jahre (1999‒2002), weil ein kaum zu bewältigender Deponiebrand ein deutlicher Hinweis darauf war, was zu tun sei: Schluss. Es muss damit gerechnet werden, dass eines Tages verseuchte Salzlauge ins Grundwasser gelangen wird. Doch im Moment gilt die Anlage noch als relativ sicher.
 
Die Sprache muss sich an neuartige Vorgange anpassen: „Absaufen“ lautet der Fachausdruck für das Eindringen von Wasser in ein ehemaliges Salzbergwerk. Interessant ist, wie auf den verschiedenen Seiten einer Landesgrenze die Gefahren unterschiedlich bewertet werden (auch wenn die Landesgrenze Elsass/Deutschland keine traditionell gewachsene Erscheinung ist und immer wieder in Bewegung war): In Frankreich neigt man der Auffassung zu, dass jedes Bergwerk mit der Zeit absäuft; in Deutschland aber geht man davon aus, dass Bergwerke dichtgemacht werden können.
 
Die französische Version wirkt glaubwürdiger. So ist ins Atommülllager Asse II bei Remlingen und Wolfenbüttel in der Nähe von Braunschweig D, einer ehemaligen Salzabbaustätte, die sich bis 765 m unter die Erdoberfläche ausdehnte, bereits Wasser eingedrungen. Wegen des hohen Durchbauungsgrads und der jahrzehntelange Offenhaltung hat die Verformung des hinterbliebenen Salzes in der Asse ein solches Ausmass erreicht, dass das unter Spannung stehende Salz mit seiner Tragfunktion allmählich an Festigkeit verliert und sich verschiebt. Die Schachtanlage bricht zusammen, und eine Sanierung ist unabdingbar. Das Gesetz zur Beschleunigung der Rückholung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage Asse II („Lex Asse“) wurde am 28.02.2013 durch den deutschen Bundestag beschlossen. Die Kosten werden auf 4 bis 6 Milliarden Euro geschätzt. Sie sollen nicht durch die Betreiber, sondern durch den Bund getragen werden.
 
Der Fernsehbericht betonte die Pflicht unserer Generation, die Abfalldeponien in einen umweltverträglichen Zustand zu überführen. Von den Einlagerungen in ausgedienten Salzbergwerken müsse man sich verabschieden.
 
Kommentar
Das Wissen um ökologische Zusammenhänge war bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts minimal. Erst einige Skandale, die vor allem das Trinkwasser und verseuchte Landwirtschaftsböden betrafen, rüttelten auf, zwangen zum Nachdenken und Nachforschen. Doch blieben die Verhältnismässigkeiten verzerrt: Die Massen wurden mit Protesten gegen die Kernenergie und ihren radioaktiven Hinterlassenschaften beschäftigt und abgelenkt, auch mit Unterstützung durch bedeutende Firmen aus der chemischen Industrie. Das ermöglichte die Ignoranz und Billigstentsorgung auch von tödlichen Chemiegiften in aller Stille.
 
Die Kampagne war nachhaltig, im Effekt verheerend. Die meisten Leute und auch Behördenmitglieder sind noch heute in der irrigen Vorstellung befangen, sie könnten ihr Umweltgewissen entlasten, wenn sie bloss auf der Kernenergie herumhacken, obschon dort die Sicherheitsphilosophien und -massnahmen auf die Spitze getrieben sind. Durch weitere Forschertätigkeiten könnten zweifelfrei noch weitergehende Erkenntnisse zu einer sicheren Lagerung gewonnen werden, aber bei der unsäglich einfältigen Energiewende in Deutschland und der Schweiz versanden die entsprechenden Forschungen selbstverständlich.
 
Umso nötiger ist es, wenn mit Sendungen wie der „arte“-Dokumentation „Verkannte Gefahr: Sondermüll“ eine breite Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird, wo wir und unsere Gesundheit persönlich betroffen sind, ohne dass sich jemand mit der gebührenden Hinwendung darum kümmert: bei den Chemiegiften, die sich immer deutlicher in unsere Biosphäre einschleichen und vor denen es kaum noch ein Entrinnen gibt.
 
Der Sondermüll grüsst nicht allein aus einigen riesigen Gruben, sondern verteilt sich zunehmend flächendeckend. Und weiterhin klopfen die Umweltbewussten ihre Anti-AKW-Sprüche und betreiben damit eine Ablenkung von dem, was uns in allererster Linie beschäftigen müsste.
 
 
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